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Silent wounds

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10.03.2022

Moralische Herausforderungen der humanitären Arbeit verstehen

2020 machte die Covid-19-Pandemie einige der vielen Herausforderungen im humanitären Sektor auch für die breite Öffentlichkeit sichtbar. Auf einmal wurden Todesraten, Engpässe bei der medizinischen Versorgung sowie heikle Entscheidungen in Situationen mit begrenzten Ressourcen weltweit thematisiert und diskutiert. Kaum zur Sprache kam hingegen, dass solche schwierigen Entscheidungen nicht ohne Konsequenzen blieben für diejenigen, die sie fällen und deren direkten Auswirkungen mitansehen mussten. 

Möglicherweise ist dieses Versäumnis der Tatsache geschuldet, dass Gesundheitsmitarbeitende oft als Heldinnen und Helden porträtiert werden. Sie riskieren ihr Leben für andere – und dafür feiert man sie. Sogar Berichte von Schikane und Gewalt gegenüber medizinischem Personal wurden und werden dazu eingesetzt, die Stärke der «Kämpfer an vorderster Front» zu illustrieren und das Helden-Narrativ instand zu halten. Doch Storys dieser Art haben einen Haken. Sie erzählen etwa vom Kollaps unserer Gesundheitssysteme, fragen aber nicht nach den Gründen. Sie verzerren die Wirklichkeit, ignorieren die Komplexität individueller Situationen sowie suboptimale Entscheidungen – und lassen die Folgen dieser Entscheidungen ausser Acht.

Moralische Wertekonflikte

Humanitäre Mitarbeitende kennen das Gefühl, auf ein Podest gestellt zu werden – und fühlen sich oft unwohl damit. Denn in einer medizinischen Notsituation an vorderster Front zu kämpfen, bedeutet nicht selten, angesichts enormen menschlichen Leids mit der eigenen Machtlosigkeit konfrontiert zu werden. Gefühle von Unzulänglichkeit, Bedeutungslosigkeit und Frustration drängen sich auf. Sie äussern sich als Symptome von «Moral Distress», von moralischen Wertekonflikten. «Man weiss, was zu tun ist, aber institutionelle, situationsbedingte oder kulturelle Faktoren hindern einen daran, die richtigen Massnahmen zu ergreifen.»[1] Im humanitären Kontext tritt «Moral Distress» etwa dann auf, wenn bestimmte Hilfsmittel auf der Welt vorhanden sind – zum Beispiel Medikamente, Impfungen oder eine bestimmte medizinische Technologie – und man darauf, aus welchen Gründen auch immer, im Einsatzgebiet nicht zugreifen kann.

Epidemische Notlagen haben Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von humanitären Einsatzkräften. Erstmals stiess dieser Zusammenhang während eines Ebola-Ausbruchs in Uganda im Jahr 2009 bei Ärzte ohne Grenzen (MSF) auf formales Interesse. Im Jahr 2018 wurde die Analyse von moralisch belastenden Erfahrungen zu einem Forschungsschwerpunkt im Einsatzzentrum von Ärzte ohne Grenzen in Genf. Das aktuelle Projekt «Moral Experiences» unterstreicht die Bedeutung moralischer Fragen im humanitären Kontext. Zudem erhalten Mitarbeitende einen Raum, um Erlebnisse und Strategien zur Vermeidung oder Linderung von «Moral Distress» zu thematisieren. Im Kern geht es darum, die moralischen Herausforderungen in der humanitären Arbeit anzuerkennen, nachzuvollziehen und Ressourcen zur Unterstützung der Mitarbeitenden von Ärzte ohne Grenzen zu entwickeln.

Schwierige Entscheidungen in COVID-Zeiten

Dilemmata in Zusammenhang mit humanitärer Arbeit sind weder neu noch Covid-19-spezifisch. Dennoch hat die Pandemie den moralischen Stress, dem humanitäre Helferinnen und Helfer ausgesetzt sind, ans Licht gebracht. Regelmässig müssen sie wegen mangelnder Ressourcen schwierige Entscheidungen treffen. In den frühen Stadien der Pandemie wurden unsere Behandlungsmöglichkeiten dadurch eingeschränkt, dass wir einfach nicht wussten, wie die neuartige Krankheit zu vermeiden oder zu heilen wäre. Wo medizinischer Sauerstoff fehlte, war es unmöglich, eine angemessene Palliativversorgung sicherzustellen und Menschen in Würde sterben zu lassen. Auch Ansteckungsrisiken für unsere Teams sind und waren keinesfalls ausschliesslich bei Covid-19 ein Thema – doch der weltweite Mangel an Schutzausrüstung verschärfte sie.

Wo ist meine Hilfe mehr gefragt; hier im Einsatzgebiet mit Ärzte ohne Grenzen – oder zuhause?

Besonders an der Pandemie war hingegen, dass auch Länder, in denen Ärzte ohne Grenzen einen Hauptsitz hat, schwer getroffen wurden, während andere Regionen, etwa in Subsahara-Afrika, von der ersten Welle weniger mitbekamen. Einige internationale Mitarbeitende fragten sich: Wo ist meine Hilfe mehr gefragt; hier im Einsatzgebiet mit Ärzte ohne Grenzen – oder zuhause? Als die Grenzen zumachten, mussten Entscheidungen schnell getroffen werden, und zwar ohne dass die vollen Konsequenzen davon absehbar waren.

Flughäfen schlossen, was zur Folge hatte, dass internationales Einsatzpersonal nicht nach Hause zurückkehren konnte. Je nach Herkunftsland wurden die Evakuierungsflugzeuge unterschiedlich schnell organisiert. Dies rief ein Gefühl der Ungleichheit hervor. Die Suche nach Inlandsflügen innerhalb des afrikanischen Kontinents erwies sich als äusserst schwierig. Viele Mitarbeitende waren hin- und hergerissen. Einerseits hegten sie die Hoffnung, noch in ein Flugzeug steigen zu können. Andererseits wollten sie ihren überarbeiteten Kolleginnen und Kollegen beiseitestehen und verzichteten auf die Quarantänemassnahmen, die damals von den meisten Fluggesellschaften verhängt wurden.

Die Massnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit und Einschränkungen im internationalen Reiseverkehr machten das Arbeitsumfeld von Ärzte ohne Grenzen zunehmend komplex. Es gab Zweifel daran, ob wir unsere regulären Programme aufrechterhalten und weiterhin auf bestehende, nicht COVID-19-spezifische medizinische Bedürfnisse würden reagieren können. Es gab viele interne Diskussionen über Prioritäten. An einigen Orten waren wir gezwungen, unsere regulären Aktivitäten vorübergehend einzustellen, sei es aufgrund von Covid-19-Massnahmen oder weil zu viele unserer Mitarbeitenden aufgrund von Reisebeschränkungen nicht zur Arbeit kommen konnten bzw. sie oder ihre Familien mit COVID-19 infiziert waren.

Hilfe für die Helfenden

Das Projekt «Moral Experiences» hat zum Ziel, medizinische Mitarbeitende als Menschen zu porträtieren – und nicht als Heldinnen und Helden. Auch sollen schwierige, unbefriedigende Entscheidungen und deren Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Gesundheitspersonal aufgezeigt werden. Das Projekt beleuchtet die moralische Zermürbung, die aus einem suboptimalen Arbeitsumfeld heraus entsteht; wo jede Wahl nur eine schlechte sein kann und es eine Unmöglichkeit ist, hochwertige medizinische Leistungen unter menschenwürdigen Bedingungen anzubieten.

Viele Menschen, die sich für die Mitarbeit in einer medizinischen humanitären Organisation engagieren, treffen damit nach eigenem Empfinden eine «moralische Entscheidung». Unendlichem Leid mit begrenzten Ressourcen begegnen – das ist nicht nur eine Seite des Jobs. Vielmehr ist es das, was humanitäre Arbeit im Kern ausmacht. Es ist wichtig, dass einzelne Menschen schwere Entscheidungen nicht allein tragen müssen. Für Ärzte ohne Grenzen bedeutet das auch, den «Allmachtsmythos» zu zerstören, um zu verhindern, dass wir Menschen zu Helden machen – oder zu Opfern. Wir müssen aufhören, humanitäre Helferinnen und Helfer zu glorifizieren. So bekräftigen wir die grundlegende Notwendigkeit, sie zu schützen, damit sie weiterhin Notleidenden dienen können.


[1] Andrew Jameton, “Dilemmas of moral distress: moral responsibility and nursing practice”, AWHONN’s clinical issues in perinatal and women’s health nursing, vol. 4 (4), 1993, p.542-51

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