Themen
Betriebs- und Kontextanalysen
Die Identifikation der allgemeinen Trends im humanitären Sektor ist ein wichtiges Element für das Verständnis der Herausforderungen, der Wirksamkeit und der Grenzen moderner humanitärer Hilfe. Nicht minder bedeutsam ist die Analyse der einzelnen medizinischen Arbeitsschritte und des Kontextes, in dem diese ausgeführt werden. Auch wenn sich die Haupteinsatzbereiche von Ärzte ohne Grenzen nicht verändert haben (Konflikte, Epidemien und Naturkatastrophen), so haben sich die Einsätze doch aus operativer Sicht stark weiterentwickelt. Neben dem nötigen technischen Support umfasst dies insbesondere die medizinischen Zielsetzungen sowie die damit einhergehende Grösse, fachliche Orientierung und Zusammenstellung der Teams im Feld. Eine vom lokalen Kontext losgelöste operative Analyse läuft Gefahr, zentrale externe Akteur:innen und Partner:innen zu übergehen oder die politischen Entwicklungen ausser Acht zu lassen, welche die Leistung von humanitärer Hilfe begünstigen oder möglicherweise behindern können.
Hilfeleistungen und Strategie
Den Zugang zur von bewaffneten Konflikten betroffenen Zivilbevölkerung zu verhandeln, gehört heute wohl zu den grössten Herausforderungen für humanitäre Hilfsorganisationen. Während die Kriegsparteien gemäss den in den Genfer Konventionen verankerten Grundsätzen dazu verpflichtet sind, raschen und ungehinderten Zugang zu Bedürftigen zu gewähren, sind Hilfsorganisationen in der Praxis dazu gezwungen, sich durch ständigen Dialog mit den Staaten und den Konfliktparteien einen Handlungsspielraum zu erschliessen. Weil humanitäre Hilfe die Interessen mehrerer Parteien tangiert und mitunter die Staatshoheit in Frage stellt, ist sie seit jeher anfällig für Manipulation. Darüber hinaus stellen das exponentielle Wachstum des humanitären Sektors in den letzten zehn Jahren und die zentrale Rolle der Staaten und Geldgeber:innen bei der Ausgestaltung der Politik eine grosse Herausforderung für Platz und Relevanz unabhängiger humanitärer Hilfe dar.
Humanitäre und medizinische Ethik
Ethische Herausforderungen sind eng mit der medizinischen Praxis im humanitären Kontext verbunden. Manche davon betreffen das Gesundheitswesen allgemein, werden im humanitären Kontext jedoch noch verstärkt, wie Ressourcenknappheit, Triage-Entscheidungen, Qualitätsbedenken und Überweisungswege. Andere sind spezifisch: Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung, mögliche Interferenzen mit den lokalen Systemen und Interessensgruppen sowie die Wahrnehmung von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit humanitären Handelns. Diese Herausforderungen anzuerkennen und anzugehen, bildet eine Entscheidungsgrundlage hinsichtlich der Wahl des richtigen Ansatzes. Da dies nicht immer möglich ist, sind Massnahmen zur Schadensbegrenzung gleichermassen relevant. Auch wirft die humanitärmedizinische Tätigkeit weltweit zahlreiche Kontroversen auf: Was gilt in verschiedenen Kulturen als ethische medizinische Praxis? Wie ist der Ungleichbehandlung in den Gesundheitssystemen zu begegnen? Sind globale gesundheitspolitische Programme gerecht? Vor dem Hintergrund dieser Kontroversen sind die humanitäre Medizin und ihre Legitimationsgrundlagen als eigenes Arbeitsfeld der biomedizinischen Ethik zu untersuchen.
Vertreibung und Migration
In der ersten Hälfte des Jahres 2022 ist die Zahl der Zwangsvertriebenen laut UNHCR weltweit auf über 100 Millionen angestiegen. Dazu zählen Flüchtende und Asylsuchende, aber auch 53,2 Millionen Binnenvertriebene. Zwar sind Kriege und Gewalt die Hauptgründe für Vertreibung, insbesondere in Afghanistan, Burkina Faso, der Demokratischen Republik Kongo, Äthiopien, Myanmar, Nigeria und zuletzt in der Ukraine, doch treiben auch Naturkatastrophen, Armut und die Auswirkungen des Klimawandels immer mehr Menschen in die Flucht. Während humanitäre Hilfe in den 1980er Jahren vor allem in Geflüchtetenlagern stattfand, steht die medizinische Versorgung von geflüchteten und vertriebenen Menschen heute vor ganz anderen Herausforderungen. Moderne Migrationsmuster haben den traditionellen humanitären Schauplatz verändert: Der Grossteil der Vertriebenen lebt heute in informellen Niederlassungen auf städtischem Gebiet und nicht mehr in klar erkennbaren Camps. Dies zwingt humanitäre Hilfsorganisationen, ihre Rolle zu hinterfragen und die Grenzen ihrer Tätigkeit neu zu definieren. Eine zunehmend migrationsfeindliche Haltung sowie Abschreckungspolitik und Kriminalisierung sind weitere Herausforderungen für Organisationen mit dem Ziel, Menschen auf der Flucht zu unterstützen.
Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt
Von der griechischen Mythologie bis hin zur Demokratischen Republik Kongo ist sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt schon immer ein Bestandteil von Konflikten. Ihre Strategien und Zwecke sind zahlreich: Entschädigung bzw. Bezahlung für Armeen, Initiationsritual für Kindersoldaten, Folter zum Erhalt von Informationen, Werkzeug des Terrors zur Erniedrigung von Menschen, die als Feinde betrachtet werden usw. Diese Art der Gewalt betrifft ganze Bevölkerungen, d. h. nicht nur Frauen und Kinder, sondern auch Männer, ganz gleich welchen Alters oder welcher soziokulturellen Herkunft. Neben den psychischen und physischen Folgen müssen viele Opfer Angst haben, von ihrer Familie oder der Gesellschaft abgelehnt zu werden. Auf sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt wird deshalb nicht nur medizinisch reagiert (HIV-Prophylaxe, Behandlung sexuell übertragener Infektionen, Notfallverhütung usw.), sondern auch psychologisch (psychologische Behandlung, psychosoziale Betreuung usw.). Schliesslich ist nicht ausser Acht zu lassen, dass dieses Problem im Grunde ein politisches ist, vor allem was die präventiven Aspekte dieser Gewalt und die Bestrafung der Täterschaft betrifft.
Epidemien und deren Bekämpfung
Menschen in Notlagen sind besonders anfällig für übertragbare Krankheiten und Epidemien. Vorsorge und Eindämmung sowie die Behandlung der betroffenen Bevölkerungsgruppen sind Kernaufgaben der humanitären medizinischen Versorgung durch Impfungen, Gesundheitsförderung, Wasser- und Hygiene-Programme sowie Fallerkennung und -management. Jüngste grossflächige Epidemien haben langjährige Herausforderungen in den Vordergrund gerückt, so etwa Fragen der Gleichberechtigung beim Zugang zur Behandlung sowie das Zusammentreffen lokaler Prioritäten mit der internationalen Gesundheitssicherheit, und haben aufgezeigt, welch inadäquate Unterstützung fragile Gesundheitssysteme erhalten. Dabei gehen die Auswirkungen eines Krankheitsausbruchs weit über die direkt betroffenen Menschen und Bevölkerungsgruppen hinaus und schwächen die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen von ohnehin schon krisengebeutelten Gebieten.
Geschichte der humanitären Hilfe
Die Geschichte der humanitären Hilfe ist ein blühendes Forschungsgebiet, das sich nicht nur mit der Zeit nach dem Kalten Krieg, sondern auch mit Schlüsselmomenten des 20. Jahrhunderts und den Vorboten der Kolonialzeit befasst. Neben den klassischen Methoden der Literaturforschung kommen vermehrt auch neue Quellen zum Einsatz, seien dies nicht-traditionelle Archive oder Primärquellen aus dem Feld. Diese Entwicklungen haben es ermöglicht, jenen das Recht auf Mitsprache und Mitgestaltung zu geben, die historisch als passive Empfänger:innen von Hilfe angesehen wurden. Die Forschung bezweckt, Erkenntnisse darüber zu liefern, wie sich humanitäre Hilfe entwickelt hat und welche Vorurteile weiter bestehen, um dem Ideal eines weniger bevormundenden Ansatzes näher zu kommen, da der Sektor nach und nach über seine westlichen Ursprünge hinauswächst.
Angriffe auf Gesundheitsversorgung
Seit ihrer Gründung hat Ärzte ohne Grenzen viele Formen von Gewalt gegenüber ihren Patient:innen, Mitarbeitenden, Gesundheitseinrichtungen und Sanitätsfahrzeugen sowie gegenüber den nationalen Gesundheitssystemen insgesamt erlebt. Als Hilfsorganisation bildet sie in dieser Hinsicht keine Ausnahme, und es wird viel darüber diskutiert, wie diese Gewalt sich entwickelt hat, welche Trends erkennbar sind, wie sich Straflosigkeit trotz der im humanitären Völkerrecht verankerten Schutzbestimmungen fortsetzen kann und welche Wirksamkeit Massnahmen zur Eindämmung dieses Phänomens (z. B. Profiling) aufweisen. Hingegen ist unbestritten, dass Angriffe auf medizinische Einsätze nicht nur die Leistung von Hilfe beeinflussen, sondern potenziell ganze Bevölkerungsgruppen von lebensnotwendiger Versorgung abschneiden können – und das genau dann, wenn diese am dringendsten benötigt wird. Dessen ungeachtet wurden die langfristigen Folgen von akuter Unsicherheit in Konfliktgebieten, darunter der Abzug von medizinischem Personal oder der Zusammenbruch des gesamten Gesundheitssystems, bisher nur vereinzelt erforscht.
Globale und öffentliche Gesundheit
Massnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit spielen eine zentrale Rolle für den Schutz von Bevölkerungsgruppen im humanitären Kontext, insbesondere wenn diese auf der Flucht in provisorischen, überfüllten Niederlassungen leben. Auch die von neu aufkommenden oder wiederkehrenden Infektionskrankheiten und von der Resistenz gegen antimikrobielle Mittel ausgehende Gefahr hat globale Dimensionen. Nach dem Ebola-Ausbruch in Westafrika und der Covid-Pandemie werden globale Massnahmen zur Überwachung der öffentlichen Gesundheit, darunter Grenzschutzmassnahmen, aus dem Blickwinkel der Gesundheitssicherheit betrachtet. Zu den offiziellen Initiativen zählen die 2014 gestartete «Global Health Security Agenda» (GHSA) und die «International Health Regulations» (IHR), ein Regelwerk, das zuletzt an der Weltgesundheitsversammlung von 2005 revidiert wurde. In diesen sich ergänzenden Rahmenbestimmungen wird anerkannt, dass das weltweite Reise- und Handelsaufkommen einen Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung hat, weshalb soziale Gerechtigkeit und Gesundheit verstärkt als interdependente globale Herausforderungen anzusehen sind. Doch beeinträchtigen zahlreiche externe Faktoren die politische Verpflichtung zur Einhaltung von GHSA und IHR. Überdies haben einkommensschwache Länder mit ihren anfälligen und unterbesetzten Gesundheitssystemen aus offensichtlichen Gründen Mühe, die Kapazitäten zur Überwachung der öffentlichen Gesundheit aufzustocken, wie dies vermehrt von ihnen verlangt wird.
Planetare Gesundheit
Um die Gesundheit unseres Planeten ist es schlecht bestellt. Dies droht, die aus Sicht der Menschheitsgeschichte jungen und zaghaften Erfolge im Gesundheitswesen zunichtezumachen. Manche klimabedingten Veränderungen und Umweltschäden sind bereits jetzt irreversibel. Menschen in humanitären Krisengebieten sind davon überverhältnismässig stark betroffen, obwohl sie am wenigsten an klima- und umweltschädigenden Praktiken beteiligt sind. Die «Krankenakte» des Planeten betrifft alle Bereiche und zeigt, wie wichtig interdisziplinäre Arbeit ist. Herausforderungen für die Gesundheit umfassen klimaempfindliche Krankheiten (durch Vektoren übertragene Atemwegserkrankungen aufgrund der Luftverschmutzung), steigende Ernährungsunsicherheit (Mangelernährung), One-Health-Risiken sowie extreme Hitzewellen, die Hochrisiko-Gruppen am stärksten treffen (Altersextreme, chronisch Kranke). Es gilt, die Auswirkung von Klima und Umwelt auf die Gesundheit zu überdenken sowie Bündnisse und Partnerschaften über Sektoren hinweg zu schaffen – mit dem dringenden Verweis darauf, dass wir diese Herausforderung nicht im Alleingang meistern können. Ärzte ohne Grenzen ist bestrebt, ihre eigene Umweltbilanz durch praktische Massnahmen zu verbessern, indem beispielsweise Alternativen für Einwegmaterial gesucht und eingesetzt oder die Lieferketten nachhaltiger gestaltet werden.