Die Repräsentation von leidenden Menschen in den Medien durch medizinische Hilfsorganisationen wirft ethische Fragen auf, die aus mindestens drei Gründen kritisch beleuchtet werden müssen. Erstens besteht ein normatives Vakuum zwischen medizinischer, humanitärer und fotojournalistischer Ethik. Zweitens bietet die Fortführung von Stereotypen über Krankheit, Hungersnöte und Naturkatastrophen sowie deren politische Nebenprodukte eine Angriffsfläche für moralische Kritik, gegen die die humanitäre Medizin nicht immun ist. Drittens kann das zufällige Aufeinandertreffen von Vertreter:innen der Gesundheitsberufe und Mitgliedern der Presse an humanitären Schauplätzen zu Missverständnissen und moralischen Spannungen führen.
In diesem Artikel hat sich Philippe Calain das Ziel gesetzt, das Problem einzugrenzen und in zwei sukzessiven Denkschritten zu analysieren. Als Erstes wendet er Kriterien der medizinischen Ethik auf konkrete Beispiele von Werbeplakaten einer medizinischen Hilfsorganisation an und kommt zu dem Schluss, dass die Repräsentation von leidenden Menschen in den Medien den ethischen Standards der medizinischen Praxis generell nicht genügen. Als Zweites versucht der Autor die übergeordneten humanitären Imperative auszumachen, die Einwände dieser Art ausser Kraft setzen könnten.